Reportage
AUF 10 QM
und darüber hinaus
Wie ist das möglich, alles zu verlieren und trotzdem glücklich zu sein?
Mein Vater hat eine große Gabe, sich unerträgliche Situationen oder schwierige Entscheidung mit der Hilfe der Logik, des Verstandes und zuletzt dem Gefühl zurechtzulegen.



Seine Krankheit und Frührente hat ihn viel zu früh aus dem Berufsleben rausgerissen. Die Alzheimer-Erkrankung seiner zweiten Frau warf alles aus der Bahn. Dann müßten Entscheidungen getroffen werden. Zwei Jahre lang hat Er auf einen Platz im Pflegeheim gewartet um an der Seite seiner geliebten Frau zu sein. Dann stand den täglichen Treffens, mal zu einer Nachmittagsjause, mal zu einem Spaziergang nichts mehr im Wege. Er wachte über Sie ob Sie die richtige Medikamente, eine Physiotherapie oder saubere Kleidung bekam.



In seinem Zimmer warteten ihre Lieblingssachen auf Sie, eine gute Gesichtscreme, ein roter Nagellack, ein Parfum. Mein Vater legte jeden Tag seine Hand an und machte Sie mit viel Hingabe zurecht.
Er konnte sich dem Trauer her geben und warten auf ihr Tod, trotzdem nutzte Er jede Minute und erfreute sich über jedes Lebenszeichen, ein Lächeln, ein Augenzwinkern und in guten Tagen auch über einen Witz.


Meinem Vater ist nie langweilig. Aus jeder Tätigkeit mach Er was nützliches. Die Zeit geht dadurch nicht verloren. Aus einem plausiblen Lottoschein wird eine mathematische Aufgabe, aus
Fernsehen eine Suche nach interessanten Thesen, Sprüchen oder Gedanken. Diese Sätze werden im Helft notiert, auf bloßen Zettel wiederum Worte auf Englisch, die man überall mitnehmen kann um zu lernen.
In nostalgischen Momenten sucht
Er stütze in der Natur und erfreut sich über Gackern der Hühner, Wind in den Bäumen, Geruch der Wiese…
Wenn ihn Sehnsucht nach alten Zeiten packt, dann holt sich mit Hilfe eines Bleistiftes die Vergangenheit aufs Papier.



Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben und Er noch immer macht sein Ding. Das grauenvolle Essen dort schmückt mit gekauften Beilagen. Der zwei Meterlanger Gang im Zimmer kompensiert mit Gymnastik im Fitnessraum, kein intellektueller Austausch unter Pflegebedürftigen mit Büchern und Besuchern.


Mein Vater beklagt sich nie. Er versucht Niemanden zu Last zu fallen. Und lebt mit einer Leichtigkeit von der ich nur träumen kann.
Er hat sich mit seinem Leben dort arrangiert, aber ich mit seinem nicht. Er hat was besseres verdient.